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  freundliches Gesicht, das man nie gesehen hat, und vielleicht auch
  nie wieder sehen wird. Man fährt J1sich so nahe vorbey, daß man sich
  die Hände reichen könnte zum Willkomm und Abschied zu gleicher
  Zeit. Das Herz schwillt beim Anblick so vieler schwellenden Segel,
5 und wird wunderbar aufgeregt, wenn vom Ufer her das verworrene
  Summen und die ferne Tanzmusik und der dumpfe Matrosenlerm
  herandröhnt. Aber im weißen Schleyer des Abendnebels verschwim-
  men allmählig die Contouren der Gegenstände, und sichtbar bleibt
  nur ein Wald von Mastbäumen, die lang und kahl emporragen.
10 Der gelbe Mann stand noch immer neben mir, und schaute sin-
  nend in die Höhe, als suche er im Nebelhimmel die bleichen Sterne.
  Noch immer in die Höhe schauend, legte er die Hand auf meine
  Schulter, und in einem Tone, als wenn geheime Gedanken unwillkür-
  lich zu Worten werden, sprach er: »Freyheit und Gleichheit! man fin-
15 det sie nicht hier unten und nicht einmal dort oben. Dort jene Sterne
  sind nicht gleich, einer ist größer und leuchtender als der andere,
  keiner von ihnen wandelt frey, alle gehorchen sie vorgeschriebenen,
  eisernen Gesetzen - Sclaverey ist im Himmel wie auf Erden.«
  »Das ist der Tower!« rief plötzlich einer unserer Reisegefährten,
20 indem er auf ein hohes Gebäude zeigte, das, aus dem nebelbedeckten
  London, wie ein gespenstisch dunkler Traum, hervorstieg.
    
  II.
25  
  J3London.
   
  Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden
  Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer -
30 noch immer starrt in meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald
  von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Men-
  schengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer
  grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses - ich
  spreche von London.
35 Schickt einen Philosophen nach London; bey Leibe keinen Poeten!
  Schickt einen Philosophen hin und stellt ihn an eine Ecke von
  Cheapside, er wird hier mehr lernen, als aus allen Büchern der letz-
  ten leipziger Messe; und wie die Menschenwogen ihn umrauschen,
  so wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufsteigen, der
40 ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn anwehen, die verborgen-
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