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5 | | Diese Dichtung hat uns beim ersten unbefangenen Durchlesen so |
| | freundlich ergötzt und gemüthlich angesprochen, daß es uns wahr- |
| | lich schwer ankömmt, sie mit der nothwendigen Kälte, nach den |
| | Vorschriften und Anforderungen der dramatischen Kunst, kritisch |
| | zu beurtheilen; ihren innern Werth, mit Unterdrückung individueller |
10 | | Anregungen, gewissenhaft genau zu bestimmen, und ihre Mängel |
| | und Gebrechen mit strenger Hand aufzudecken. – Ehrlich gestanden, |
| | will es uns freylich bedünken, als ob wir bey diesem Geschäft nicht |
| | ganz unähnlich sind jenem unzufriedenen Grämlinge, der in der Mit- |
| | tagsschwüle unter einem laubigen Apfelbaume ein kühlendes |
15 | | Obdach fand, den lechzenden Gaumen mit den Früchten desselben |
| | labte, sich weidlich ergötzte an dem Gezwitscher der Vöglein, die |
| | von Zweig zu Zweig flatterten, aber endlich gegen Abend sich ver- |
| | drießlich auf die Beine macht, und über den Baum raisonnirt und in |
| | sich murmelt: das war ein erbärmliches Lager, das waren ja herbe |
20 | | Holzäpfel, das war ein unausstehliches Spatzengepiepse u.s.w. |
| | Indessen das Rezensiren hat doch auch sein Gutes. Es giebt heur so |
| | viele wunderliche Bäume auf dem Parnaß, daß es Noth thut, wie in |
| | botanischen Gärten Gebrauch ist, bey jedem ein weißes Täfelchen zu |
| | stellen, worauf der Wandrer lesen kann: unter diesem Baume läßt |
25 | | sichs angenehm ruhen, auf diesem wachsen treffliche Früchte, in die- |
| | sem singen Nachtigallen; – so wie auch: auf diesem Baume wachsen |
| | unreife, unerquickliche und giftige Früchte, unter diesem Baume duf- |
| | tet sinnebetäubender Weihrauch, unter diesem spuken des Nachts |
| | alte Rittergeister, in diesem pfeift ein saubrer Vogel, unter diesem |
30 | | Baume kann man gut – einschlafen. |
| | Wir haben oben bemerkt, daß wir vorliegende Tragödie nach den |
| | Kunstvorschriften der Dramaturgie beurtheilen wollen. Doch, da in |
| | Betreff derselben auch unsere größten Aesthetiker nicht mit einan- |
| | der übereinstimmen, da es Anmaßung wäre, wenn wir unsere eigene |
35 | | Meinung als die allein richtige annehmen wollten, und da wir nicht |
| | durch subjektive Ansicht das Verdienst des Dichters unbewußt beein- |
| | trächtigen möchten, so wollen wir nie unbedingt ein Urtheil über |
| | die Leistungen desselben fällen, ohne erst mit wenigen Worten ange- |
| | deutet zu haben, von welchen ästhetischen Grundsätzen wir aus- |
40 | | gehn. Wir werden demnach vorliegende Tragödie aus drey Gesichts- |