DHA, Bd. 10, S.         

 
  J<Tasso's Tod. Trauerspiel in fünf Aufzügen.
Von Wilhelm Smets, 1821>
    
5 Diese Dichtung hat uns beim ersten unbefangenen Durchlesen so
  freundlich ergötzt und gemüthlich angesprochen, daß es uns wahr-
  lich schwer ankömmt, sie mit der nothwendigen Kälte, nach den
  Vorschriften und Anforderungen der dramatischen Kunst, kritisch
  zu beurtheilen; ihren innern Werth, mit Unterdrückung individueller
10 Anregungen, gewissenhaft genau zu bestimmen, und ihre Mängel
  und Gebrechen mit strenger Hand aufzudecken. – Ehrlich gestanden,
  will es uns freylich bedünken, als ob wir bey diesem Geschäft nicht
  ganz unähnlich sind jenem unzufriedenen Grämlinge, der in der Mit-
  tagsschwüle unter einem laubigen Apfelbaume ein kühlendes
15 Obdach fand, den lechzenden Gaumen mit den Früchten desselben
  labte, sich weidlich ergötzte an dem Gezwitscher der Vöglein, die
  von Zweig zu Zweig flatterten, aber endlich gegen Abend sich ver-
  drießlich auf die Beine macht, und über den Baum raisonnirt und in
  sich murmelt: das war ein erbärmliches Lager, das waren ja herbe
20 Holzäpfel, das war ein unausstehliches Spatzengepiepse u.s.w.
  Indessen das Rezensiren hat doch auch sein Gutes. Es giebt heur so
  viele wunderliche Bäume auf dem Parnaß, daß es Noth thut, wie in
  botanischen Gärten Gebrauch ist, bey jedem ein weißes Täfelchen zu
  stellen, worauf der Wandrer lesen kann: unter diesem Baume läßt
25 sichs angenehm ruhen, auf diesem wachsen treffliche Früchte, in die-
  sem singen Nachtigallen; – so wie auch: auf diesem Baume wachsen
  unreife, unerquickliche und giftige Früchte, unter diesem Baume duf-
  tet sinnebetäubender Weihrauch, unter diesem spuken des Nachts
  alte Rittergeister, in diesem pfeift ein saubrer Vogel, unter diesem
30 Baume kann man gut – einschlafen.
  Wir haben oben bemerkt, daß wir vorliegende Tragödie nach den
  Kunstvorschriften der Dramaturgie beurtheilen wollen. Doch, da in
  Betreff derselben auch unsere größten Aesthetiker nicht mit einan-
  der übereinstimmen, da es Anmaßung wäre, wenn wir unsere eigene
35 Meinung als die allein richtige annehmen wollten, und da wir nicht
  durch subjektive Ansicht das Verdienst des Dichters unbewußt beein-
  trächtigen möchten, so wollen wir nie unbedingt ein Urtheil über
  die Leistungen desselben fällen, ohne erst mit wenigen Worten ange-
  deutet zu haben, von welchen ästhetischen Grundsätzen wir aus-
40 gehn. Wir werden demnach vorliegende Tragödie aus drey Gesichts-
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