Berliner Morgenpost, 12.02.2006

"Er war für uns ein Kinderspiel"
Gerade wurde im chinesischen Nanking Heinrich Heines Gesamtwerk von 15 Sekretärinnen abgetippt. Voraussetzung: Keine von ihnen durfte Deutsch können

Von Johnny Erling

Kennt Ihr China, das Vaterland der geflügelten Drachen und der porzellanenen Theekannen? Das ganze Land ist ein Raritätenkabinett, umgeben von einer unmenschlich langen Mauer und hunderttausend tartarischen Schildwachen. Aber die Vögel und die Gedanken der europäischen Gelehrten fliegen darüber, und wenn sie sich dort sattsam umgesehen haben und wieder heimkehren, erzählen sie uns die köstlichsten Dinge".

170 Jahre nachdem Heinrich Heine in seinem Buch "Über Deutschland" einen ironischen Abstecher ins Reich der Mitte machte, um den literarischen Zeitgenossen Clemens Brentano besser verspotten zu können, überqueren auch seine Gedanken verpackt in Buchpaketen die Grenze. Sie kehren von dort als digital erfaßte Datenmengen wieder heim. "Wir haben das Gesamtwerk des Heinrich Heine komplett abgeschrieben und das gleich zweifach", berichtet stolz die 40jährige Tao Qiaoyun in Nanking. Ihre Firma "Toy Double Key" setzte 15 junge Frauen auf Heine an. Sie brauchten zehn Monate, um 26 500 Seiten seiner veröffentlichten Werke und Gedichte in ihre Computer einzugeben. "Wir haben sie in 72 Millionen Zeichen zerlegt." Das Abschreiben ging ihnen schnell von der Hand. "Voraussetzung war, daß keines der Mädchen Deutsch konnte."

Ein "kurioses Volk in einem kuriosen Land", so hatte Heine die Chinesen 1835 bezeichnet, deren Staat er nie besuchte. Was würde er heute sagen, wo sie ihn Wort um Wort kopieren, ohne eines davon zu verstehen? Wahrscheinlich wäre er aber über Chinas Umgang mit ihm ebenso verblüfft wie erleichtert. Denn auch im letzten großen kommunistischen Staat der Erde haben sich seine einstigen Sorgen vor der Zukunft zerstreut. In seinem Spätwerk trieb Heine die Furcht vor der zerstörerischen Gleichmacherei des in Europa erwachenden Kommunismus um. Im Vorwort für die französische Ausgabe seiner journalistischen Aufsätze "Lutetia" schrieb er von seiner "größten Angst und Besorgnis, daß den Kommunisten die Zukunft gehört" und von einer neuen Weltordnung, die seine Gedichte bedroht und wo "Krautkrämer mein Buch der Lieder zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten".

In der fernen Volksrepublik wurden unter der Herrschaft Mao Tsetungs anfangs viele der Prophezeiungen Heines Wirklichkeit. Doch dann kam es nach dem Tod Maos anders, obwohl das Land immer noch kommunistisch regiert wird. Heines "Buch der Lieder" ist heute ein Bestseller in China, der für die Jugend in "Geschenkausgaben" erscheint. Manche seiner Gedichte wurden so populär, daß sie der Musiksender des Staatsfernsehens täglich als Lieder spielt. Chinesische Musikstudentinnen singen darin in deutscher Sprache die ersten beiden von Mendelssohn-Bartholdy vertonten Heineverse "Auf Flügeln des Gesanges".

Weltbürger Heine darf sich über das Interesse freuen. Noch überraschter wäre er, wenn er erfahren könnte, wie China ihm dank globaler Arbeitsteilung hilft, zu seinem 150. Todestag virtuell unsterblich zu werden. Sein Lebenswerk, das in der sechzehnbändigen Düsseldorfer Ausgabe und in acht Briefbänden der Weimarer Ausgabe erschien, wurde in Nanking abgeschrieben und in Trier und Düsseldorf im neuen "Heinrich-Heine-Portal" gebündelt. Mit diesem Mammutprojekt wird erstmals ein deutscher Schriftsteller vollständig digital aufgearbeitet, sagt Thomas Burch, einer der beiden Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für elektronische Publikationsverfahren an der Universität Trier. Mit der Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem inhaltlich federführenden Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut stellen sie seit 2002 das Lebenswerk Heines auf ihre virtuellen Beine.

Chinesische Typistinnen lieferten mit der Abschrift von Heines Werk das Fundament für das neue Portal, das Trierer Datenspezialisten und Düsseldorfer Textwissenschaftler mit Nachschlagedateien und Quellenapparat bis 2007 zum vollständig integrierten Informationssystem über Heine aufbereiten. Die internationale Zusammenarbeit funktioniert. Ohne die billigen Chinesen, die 40 Cents für 1000 abgetippte Zeichen erhielten und an die ein Dreißigstel der Gesamtkosten des 800 000 Euro teuren Projekt gingen, wäre "Heine online" nicht finanzierbar. Seit 1996 hat sich die Nankinger Firma auf die Datenerfassung deutscher Texte und Wörterbücher spezialisiert. Sie tippte im Auftrag Triers auch das Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm mit seinen 350 000 Stichwörtern ins Netz. "Wir brauchten dafür zwei Jahre. Heine war dagegen ein Kinderspiel", sagt Chefin Tao. Ihr Bruder lebt in Trier und bereitete die chinesische Texterfassung durch genaue Abschreib-Anweisungen vor.

Am Frauentag, dem achten März 2003, begann die Abtipparbeit, die die jungen Mädchen doppelt ausführten. Weil sie zeichenorientiert die Texte kopierten, ließen sich schon beim mechanischen Abgleich der Abschriften die gröbsten Abschreibpatzer herausfiltern. "Wenn ein Text zweimal abgeschrieben wird, kommen es selten zu denselben Fehlern", erklärt Tao Qiaoyun. "Wir haben die Texte aus China mit einer Fehlerquote von nur noch fünf Fehlern auf 10 000 Zeichen bekommen", bestätigt Thomas Burch. "Sprachkundige hätten beim Abtippen durch Mitlesen viel mehr zusätzliche Fehler gemacht.".

Heine für deutsche Auftraggeber abzuschreiben war einfach. Seine Werke für chinesische Leser zu editieren, fiel ungleich schwerer. 20 Jahre brauchte der heute 71jährige Zhang Yushu, der Jahrzehnte an der Pekinger Universität lehrte und heute Chinas bekanntester Germanist ist, um die wichtigsten Arbeiten in vier Bänden zu veröffentlichen. Band IV konnte erst 2002 erscheinen. Er enthält das Buch "Lutetia", eine Sammlung von Berichten, die Heine zwischen 1840 und 1844 für die Augsburger "Allgemeine Zeitung" geschrieben hatte. In ihnen ging der Zeitgenosse und Freund von Karl Marx auf Distanz zur kommunistischen Entwicklung. "Heine kritisierte nicht das Ideal des Kommunismus, sondern seine Entstellung durch den kleinbürgerlichen Radikalismus der Gleichmacherei", sagt Zhang. Für Chinas Kulturfunktionäre, die Heines Werke nie im Original gelesen hatten, war sein Spätwerk suspekt. Sie bewerteten ihn als bürgerlichen Literaten, der wegen seiner Zweifel nicht in den Olymp der proletarischen Dichter gehörte. "Seine Freundschaft mit Marx konnte ihn nicht retten, weil Heine seine Angst vor dem Kommunismus öffentlich eingestand. Das war in Pekings Augen unverzeihlich."

Heines politische Weitsicht, sein Zorn über die Demagogie kommunistischer Propaganda und ihrer Phrasen über Gleichmacherei, erreichten erst nach Maos Tod chinesische Leser. Sie wirkten auf viele wie eine Offenbarung: Auch Zhang erinnert sich, wie er 1958 als junger Deutschdozent der Universität Peking in Maos Volkskommunenbewegung mit seiner Frau in die Landkommune Mentougou geschickt wurde. Sie mußten in drei riesigen "Volksküchen" für die Dörfer arbeiten. Dort erhielten alle Bauern das gleiche zu essen; jeder einen Schlag Maissuppe. "Es war der Anfang für eine katastrophale Hungersnot in China." Der Germanist staunte, als er später bei Heine lesen konnte: "Dieser Kommunismus wird in seinem Staate Küchengleichheit einführen, wo für uns alle dieselbe spartanische schwarze Suppe gekocht werden soll, und was noch schrecklicher, wo der Riese noch dieselbe Portion bekäme, deren sich Bruder Zwerg zu erfreuen hätte". Dort herrsche das "Prokrustes-Prinzip", bei dem alle gestreckt werden, bis sie in das Bett paßten oder wenn sie dafür zu lang sind, die Beine abgeschnitten bekämen. "Diese Gleichmacherei ist eine Falle geworden, in die im Laufe des 20. Jahrhunderts so viele Länder in Ost und West hineingefallen und deretwegen so viele Opfer gebracht worden sind," schrieb Zhang Yushu 2003 in dem von ihm herausgegebenen Chinesisch-Deutschen Jahrbuch "Literaturstraße" - eine Erkenntnis, zu der ihm Heine verhalf.

Unterstützt vom Mentor der Germanisten und Chinas großem Dichter Feng Zhi übersetzte Zhang Heines "Die romantische Schule". Sie kam 1979 als eine der ersten Übersetzungen ausländischer Literatur nach der Kulturrevolution heraus. Eine nach echter literarischer Kritik lechzende Generation entdeckte Heine: "Der Inhalt war frisch, seine Sprache elegant und kein trockenes Parteichinesisch". Er "stillte den Hunger in unseren Seelen" schrieb der Autor Wang Shijun. Viele heute arrivierte Schriftsteller, darunter die Dichterin Shu Ting, bekennen, wie stark Heine sie damals beeinflußte. Als die "romantische Schule" auch in den ausgewählten Werken erschien, deutete Zhang Yushu im Vorwort an, was chinesische Leser daran so faszinierte. Heines Polemik gegen die römische Kirche lasen sie als Kritik an der "Anbetung eines Abgottes" und dachten an ihre jüngste Vergangenheit zurück. Wenn Heine von "Hundedemut und Engelsgeduld" sprach, fühlten sie sich an das maoistische China erinnert. Auf der zweiten internationalen Heine-Konferenz 1997 in Peking rief Veranstalter Zhang Yushu dann emphatisch: "Heine gehört auch uns!"

Das tut er inzwischen - sogar mit Denkmal. Seine Heimatstadt Düsseldorf, die ihn zu Lebzeiten verschmäht hatte, spielte dem Weltbürger diesen Streich. Ihr Oberbürgermeister Joachim Erwin brachte vergangenen Oktober Heines Büste der Partnerstadt Chongqing am Yangtsestrom als Geschenk. Die Bronzeplastik erhielt einen Platz im neuen "Drei-Schluchten-Museum" der Stadt, mitten zwischen Exponaten über den Yangtse-Strom mit seinen Kulturgütern und dem umstrittenen Riesendamm. Das sitzt nun Heine im Museum tief in Chinas Provinz. "Das ganze Land ist ein Raritätenkabinett" hatte er einst geschrieben. Nun darf er dort selbst Staub ansetzen.

Das Heinrich-Heine-Portal:

www.heine-portal.de


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